„Einen Vorteil hat dieses dicke Gestrüpp ja“, keuchte Araic. “Hier kann Kan-Tòr uns wenigstens nicht erwischen.”
„Stimmt!“, entgegnete Hanis, der genauso mit dem Unterholz zu kämpfen hatte. „Aber wer weiß, was hier im Wald für Gestalten wohnen. Ich hoffe nur, dass es ohne Ausnahme friedliche Gesellen sind.”
Sie hatten das Stammesgebiet am Morgen im ersten Licht des Tages verlassen. Alle Würmer waren extra früh aufgestanden, um bei dem Abschied dabei zu sein. Die beiden Abenteurer hatten sich vor Beglückwünschungen, hin- und her geschwenkten Mutblumenblättern und Händen, die ihnen auf die Schultern klopfen wollten, kaum retten können. Es war wie ein Spießrutenlauf, der noch durch die Tränen der Eltern und Geschwister verschlimmert wurde. Aber endlich hatte Winuwuk seine Abschiedsrede unter fortwährenden Hochrufen zu Ende gebracht, und sie hatten dem Aufruhr entfliehen können. Sie durchquerten die Wiesen, die an das Stammesgebiet grenzten, blickten sich noch einmal um, als sie auf dem ersten Hügel außerhalb ihrer gewohnten Umgebung standen, und waren dann außer Sicht. Noch lange hörten sie die rufenden Würmer hinter sich, bis schließlich auch die letzten Stimmen verklungen waren und sie ganz allein auf sich gestellt und schweigend dahin schlängelten.
Sie hatten es tatsächlich getan. Sie waren gegangen, und sie würden es auch weiterhin wagen. Die Bäume standen immer enger beieinander, und langsam veränderte sich die vertraute Landschaft. Die Sonne hatte zusehends Schwierigkeiten, die beiden Ringler auf dem Boden zu erreichen.
Fast einen halben Tag waren sie schon durch den immer dichter werdenden Wald gelaufen, als sie sich entschlossen, eine Pause zu machen. So setzten sie sich auf einen Stein und öffneten ihre kleinen Rucksäcke, um nachzusehen, was sie wohl an Proviant mitbekommen hatten. Araic förderte eine Flasche grünen Eichenblattsaft zutage. Den tranken die beiden am liebsten. In Hanis’ Rucksack befand sich unter anderem eine große, in Baumrinde eingewickelte Portion Tannennadelsalat mit Grashalmen. Auf einmal, als sie die Sachen auspackten, kam ihnen die Reise wie ein Ausflug zu einem Picknick vor. Sie machten es sich bequem und aßen und tranken nach Herzenslust, bis sie satt waren und nicht einmal mehr ihre Schwanzspitzen bewegen konnten.
Gerade wollten sie ein Mittagsschläfchen halten, als ein lautes Grollen den Waldboden erzittern ließ.
„Was war das?“, rief Hanis mit weit aufgerissenen Augen.
„Woher soll ich das wissen?“, entgegnete Araic, der nicht weniger Angst bekommen hatte als sein Freund.
„Auf alle Fälle hört es sich an wie ein ungeheuer lautes Niesen! Aber wenn das ein Niesen ist, dann muss es von jemand kommen, der noch viel größer als Kan-Tòr ist, sonst könnte von einem bloßen Nieser doch nicht der ganze Wald erzittern”, kombinierte Araic.
„Haaatschiiiie“, dröhnte es noch einmal durch den Wald, nur dieses Mal noch lauter. Unsere beiden Freunde wären fast von ihrem Stein gefallen.
„Es scheint, dieses Ungetüm kommt auch noch näher …“, flüsterte Araic. Es wurde ihnen sehr mulmig zumute.
Dann hörten sie auch noch ein lautes Schniefen gefolgt von einem Rascheln und einem herzhaften Nasenschnäuzen, das fast wie ein Stoß aus einer Riesenposaune klang. Ein kleines Stück entfernt fingen mit einem Mal die Büsche an zu rascheln und sich zu teilen, und dann sahen sie etwas Großes, Braunes auf sie zukommen. Und es war tat- sächlich sehr groß. Es sah aus, wie eine Kreuzung aus bei uns auf der Erde lebenden Braunbären und Kängurus. Vom Bären hatte es die große, kräftige Statur, nur war es nicht ganz so behäbig, und das Gesicht blickte sogar recht freundlich in die Welt. Vom Känguru schien es den Beutel an seinem Bauch zu haben. Doch aus diesem Fellsack lugte nicht etwa ein kleines Baby hervor, wie bei den Kängurus, sondern etwas, das tatsächlich aussah wie ein Taschentuch.
Staunend sahen sie das merkwürdige Wesen an, das genauso erstaunt zurückblickte, mit einem Mal seine Nase verzog, mit den Barthaaren wackelte, den Kopf weit nach hinten riss und donnernd einen erneuten Orkan aus seinem weit aufgerissenen Maul entließ. Nun konnten sich Hanis und Araic wirklich nicht mehr an ihrem Stein halten und purzelten in den weichen Sand herunter. Dann griff dieses merkwürdige Wesen tatsächlich in seinen Fellbeutel an seinem Bauch und zerrte ein Taschentuch hervor, mit dem er sich wieder geräuschvoll schnäuzte.
„Ja, wer seid ihr denn? So etwas Kleines, Ringeliges, Naseguttuendes habe ich ja meinen Lebtag noch nicht gesehen, habe ich nicht?!”, fragte das Wesen mit einer tiefen, aber warmen und weichen Stimme, die irgendwie sympathisch klang, wenn sie auch ein wenig heiser und belegt schien.
Araic und Hanis steckten die Köpfe hinter dem Stein hervor und erwiderten zitternd und stotternd wie aus einem Mund:
„W-w-w-wir s-s-s-ind W-w-w-würmer aus W-w-worm-la-la-land. Und wer bist du?”
„Ich bin Nason, der Nieshuster, und wohne hier im Wald, wohne ich nicht?“, antwortete er freundlich. Anscheinend hatten es unsere beiden Abenteurer tatsächlich mit einem friedlichen Wesen zu tun, denn es beugte sich tief zu ihnen herab, beäugte sie mit seinen gutmütigen braunen Augen und schien keinerlei Anstalten zu machen, sie fressen zu wollen. Die beiden hatten mit einem Mal mächtige Angst, dass ein erneuter Nieser aus so kurzer Entfernung ihr endgültiges Aus sein könnte, aber glücklicherweise geschah nichts.
Hanis fasste sich ein Herz und fragte Nason, warum er immer so laut niesen musste.
„Das kommt daher, dass es hier im dunklen Wald doch ziemlich feucht und kalt ist, ist es nicht? Und es gibt selten ein warmes Plätzchen. So ist mein Pelz immer ein wenig klamm, und ich erkälte mich leicht, tue ich nicht?”, erklärte er, anscheinend erfreut, dass er einmal mit jemandem reden konnte.
„Ja, aber warum gehst du dann nicht woanders hin, wo es wärmer ist und die Sonne öfter scheint?“, fragte Araic, der nicht verstehen konnte, warum jemand blieb, wo es ihm offensichtlich nicht gefiel und es ihn krank machte.
„Das geht nicht, geht es nicht?“, kam die Antwort. „Ich muss hier doch meine Pflichten erfüllen.“
Hanis fragte, was denn das für Pflichten seien und Nason erklärte:
„Das ist so: Durch mein Niesen gebe ich vielen Pflanzen die Möglichkeit, sich zu vermehren. In einem Wald, der so dicht ist, wie dieser, gibt es fast keinen Wind und also können sich die Samen der Blumen und Bäume nicht ausbreiten, können sie sich nicht? Ich wirbele die Luft auf und sorge so für die Bestäubung und Verbreitung der Pflanzen, sorge ich nicht? Außerdem bleiben viele Samenkörner in meinem Pelz hängen, die dann woanders durch das Schütteln meines Fells beim Niesen auf den Boden geschleudert werden. Dort können sie anfangen zu wachsen, können sie nicht?”

Staunend hatten Araic und Hanis zugehört. Jetzt war ihnen klar, was für eine wichtige Aufgabe der Nieshuster hatte und dass er den Wald tatsächlich nicht verlassen durfte, denn wenn er es doch tun würde, dann würde es den Wald wohl bald nicht mehr geben.
Weil sich der Tag schnell seinem Ende zuneigte, wurde es tatsächlich immer kühler, feuchter und dunkler. Unsere beiden Freunde begannen, vor Müdigkeit und Kälte zu zittern. Sie hatten lange geredet, und es war zu spät geworden, um noch weiter zu wandern. Sie würden sich bei der Dunkelheit sowieso nur verlaufen. Nason erkundigte sich, wo sie eigentlich herkamen und was sie im Wald wollten, und sie erzählten ihm bereitwillig die Geschichte. Er hatte weder von der Welt vor noch hinter dem Wald jemals Genaueres gehört und konnte ihnen bei des Rätsels Lösung auch nicht weiterhelfen, aber er machte einen sehr schönen Vorschlag:
„Wenn ihr wollt, könnt ihr in meiner Bauchtasche schlafen. Ich bringe euch, während ihr euch ausruht, auf die andere Seite des Waldes. Morgen früh könnt ihr dann ausgeschlafen weiter wandern“.
Begeistert stimmten die beiden Würmer zu, und so leerte der Nieshuster seinen Fellbeutel aus und machte sich auf die Suche nach frischen Blättern des Weißblattstrauches.
„Die könnt ihr als Decke benutzen. Ich werde auch versuchen, nicht so oft zu niesen, damit ich euch nicht störe.“
So sprach er, hob die beiden Würmer behutsam auf und setzte sie in der weichen Fellhöhle ab. Es war wirklich kuschelig warm. Sie legten ihre Habseligkeiten in eine Ecke, rollten sich in die Weißblattblätter ein und waren fast auf der Stelle eingeschlafen.
“HAAAATSCHIIIEE”, dröhnte es durch den Wald, und die bei- den Wanderer waren auf der Stelle wach. Sie waren vollkommen durcheinander und mussten erst einmal richtig zu sich kommen, bis ihnen klar wurde, wo sie sich befanden. Sie waren immer noch in den weichen hellen Blättern in der Felltasche des Nieshusters eingewickelt. Plötzlich kam eine riesige Pfote auf sie zu, griff nach ihnen und zog sie aus ihrem wohligen Versteck hinaus in die grelle Sonne.
Grelle Sonne??? Tatsächlich! Nachdem sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, erblickten sie tatsächlich den weiten Himmel eines neuen klaren Morgens.
„Entschuldigung! Aber ich musste euch leider wecken, weil ich unbedingt ein Taschentuch brauche, brauch’ ich nicht? Ich habe mich die ganze Nacht zurückgehalten, aber jetzt kann ich wirklich nicht mehr, kann ich nicht?“, brummelte Nason ziemlich verschnupft und setzte sie behutsam auf dem Baumstumpf ab, auf dem er selbst saß. Dann folgte wieder die Prozedur, die mit einem leichten hin- und her zittern der Barthaare begann und mit einem Donnern endete, sodass die Luft erzitterte.
„Ahh … schön, ist es nicht?“, fragte Nason, nachdem er sich die Nase befreit hatte und endlich wieder einigermaßen frei atmen konnte.
„Habt ihr gut geschlafen? Ich bin die ganze Nacht durch den Wald gelaufen und heute Morgen bei Tagesanbruch hier angekommen. Ich habe mich nicht getraut, euch zu wecken, weil ich ja nicht weiß, wie viel Schlaf so ein nasenguttuender Wurm normalerweise braucht, braucht er nicht?”
„Vielen Dank, lieber Nason“, entgegnete Hanis „aber wo sind wir hier eigentlich?“. Er ließ seinen Blick umherschweifen.
Sie standen direkt am Waldrand, der sich hinter ihnen von Horizont zu Horizont in einer fast völlig geraden Linie hinzog. Vor ihnen lag eine leicht gewellte und mit bunten Blumen bestandene Wiese, die in einiger Entfernung plötzlich aufzuhören schien. Dahinter war nichts mehr zu sehen außer dem Wabern von Nebel und Morgendunst.
„Wir sind an der Echoschlucht angekommen, sind wir nicht?“, sagte Nason, „dies ist das Ende der Welt. Jedenfalls meiner Welt. Ab und zu, wenn ich hier bin, kann man auf der anderen Seite der Schlucht eine andere Welt sehen, aber ich bin noch nie dort gewesen, war ich nicht? Meine Welt ist der Wald.”
„Hier riecht es aber lecker!“, bemerkte Hanis, dem mit einem Mal auffiel, dass er einen Riesenhunger hatte. “Was ist das, was da so gut riecht?“
Nason griff erneut zu seinem Taschentuch, schnäuzte sich ausgiebig, um eine freie Nase zu bekommen, und hielt diese dann schnuppernd in die Höhe.
„Oh, du meinst bestimmt die Muratzeln. Eine Pilzart, die hier am Waldrand wächst. Tatsächlich sehr lecker … sehr lecker sind sie nicht? Ich werde mal nachsehen, ob ich welche finden kann“, murmelte er bereits im Weggehen.
Hanis und Araic sahen in Richtung der Nebelwand, die sich ihren Blicken bot. Der Frühdunst schien allmählich an Dichte zu verlieren, war aber immer noch so dick, dass von der anderen Welt auf der gegenüberliegenden Seite nichts zu sehen war. Zu beiden Seiten sah außerdem nichts nach einem Ende der Schlucht oder einer Möglichkeit aus, sie zu überqueren.
„Oh-oh“, meinte Araic. „Sollte unsere Reise etwa schon zu Ende sein?“ Hanis kroch langsam über die Wiese auf den Rand der Schlucht zu.
„Sei bloß vorsichtig!“, ermahnte ihn Araic, der ihm langsam folgte.
Nach wenigen Minuten hatten sie den Rand erreicht, streckten die Köpfe über den Abgrund und rissen sie sofort wieder zurück.
„Wui-ui-ui!“, stammelte Araic. Was sie sahen, hatte ihnen fast die Sprache verschlagen. Eine fast senkrechte zerklüftete Felswand ragte unter ihnen aus dem Nebel auf, so tief das Auge blicken konnte. Kein Boden oder Ende waren irgendwo im Dunst zu sehen. Nur Felsen und dahinter das Nichts.
„Wei-ei-ei“ war das einzige, was Hanis von sich geben konnte. Es sah weiß Gott nicht besonders gut für die beiden Abenteurer aus. Wie sollten sie jemals in der Lage sein, diese gigantische Schlucht zu überwinden? Und was erwartete sie auf der anderen Seite, wenn es ihnen denn jemals gelingen sollte?
„HATSCHIIIIE“, krachte es hinter ihnen und einige Sekunden später auch von vorn. Der Nieshuster war zweifellos wieder da, und sein Niesen hatte ein Echo erzeugt, das von der anderen Seite der Wand zurückgeworfen wurde. Doch damit war es noch nicht verhallt. Es traf wieder auf die Wand, an der Hanis und Araic saßen, hatschiete seinen Weg wieder zurück auf die andere Seite und donnerte gleich darauf wieder auf sie zu. Dabei klang es immer dunkler und bedrohlicher. Es hörte sich an, als ob es sich langsam seinen Weg nach unten bahnte. Endlich wurde es ein wenig leiser und verhallte dann schließlich irgendwo grollend unter ihnen im Dunst.
Mit tauben Ohren krochen sie leise wieder zurück in Richtung des Waldes und vermieden dabei jedes Geräusch, aus Angst, dass sie ein neues Echo auslösen könnten.
Zurück am Waldrand saß Nason schon da und schmatzte heftig. Er hatte einen ganzen Arm voll Muratzeln gesammelt. Große, braune, runde „Dinger“, die einen angenehmen Geruch nach Gänseschmalz und Zimt ausströmten. Der Nieshuster gab Araic und Hanis je einen Pilz, der größer war als sie selbst, und sie taten zaghaft ihren ersten Biss.
„Hmmm, lecker…“, ließ Hanis noch vernehmen, dann waren sie alle drei in inniges Schmausen vertieft.
Nach der Mahlzeit saßen sie stumm da und blickten in Richtung Schlucht. Ganz langsam hatte sich der Dunst gehoben, der Himmel wurde immer blauer, und auf der anderen Seite schien etwas zu sehen zu sein. Der Anblick war einfach gigantisch. So weit das Auge reichte, zog sich auf der anderen Seite der Schlucht eine ebensolche Wand vor ihren Augen entlang wie auf der ihrigen. Vollkommen gerade und zu beiden Seiten hin unendlich lang schien sie zu sein. Unten, ganz weit unten, sahen sie einen kleinen Fluss, der in sich windenden Schlangenlinien seine Bahn zog und im nun unten angekommenen Sonnenlicht glitzerte. Es war völlig still. Wirklich kein Laut war zu hören, und die beiden Würmer glaubten, auch zu wissen, warum das so war. Das Echo …
„Haaatschiiiieee“, zerriss Nason die Stille und erzeugte wieder eine dieser Echowellen, die sich durch die gesamte Schlucht hin- und herwarfen, bis sie am Fuße unten am Fluss angekommen waren. Doch diesmal lauschten Araic und Hanis voller Staunen, bis der letzte Laut verklungen war.
Der Nieshuster wurde langsam unruhig. Er wollte zurück in den Wald. Er hatte Angst, dass er noch mehr Nieser verschwendete, ohne damit etwas für seine geliebten Pflanzen getan zu haben. Aber es blieb noch ein Problem.
„Hast du eine Idee, wie man da rüberkommt?“, fragte Araic. Nason antwortete nach einigem Schnäuzen und Nachdenken:
„Nein, leider nein. Wie gesagt: Meine Welt endet hier, und ich will auch nicht weiter gehen, will ich nicht? Ich habe euch durch den Finsterwald gebracht, aber weiter kann ich euch leider nicht helfen. Es tut mir leid, tut es nicht? Ich wünsche euch alles Gute und hoffe, dass ihr für euren Stamm all das erreicht, was ihr euch wünscht. Aber nun muss ich gehen, muss ich nicht? Muss mich um meine Blumen und Bäume kümmern, muss mich kümmern. Auf Wiedersehen. Es war nett, euch getroffen zu haben.“
Und damit packte er seine Weißblattblätter wieder in seine Tasche, sah den beiden noch mal in die Augen, drehte sich um, stapfte in Richtung Wald und war nach wenigen Augenblicken wieder in der dichten grünen Wand verschwunden.
Nun saßen die verlorenen Wanderer da und wussten keine Wurmlänge weiter. Es war für sie absolut unmöglich, diese riesige Wand hinunterzuschlängeln, den Fluss zu überqueren und auf der anderen Seite wieder hoch zu kriechen. Dazu war es viel zu weit und zu steil. Immer wieder starrten sie in die Tiefe und an den Seiten entlang, um irgendeinen Hinweis für eine Lösung aus ihrer verzwickten Lage zu finden. Aber es fiel ihnen nichts Gescheites ein.
„Vielleicht sollten wir einfach am Rand der Schlucht entlang kriechen, bis sie zu Ende ist. Irgendwann ist jede Schlucht einmal zu „Ende, und diese wird es auch sein”, schlug Hanis vor.
Araic war wenig begeistert: „Das kann doch ewig dauern! Und wenn sie nun nicht zu Ende ist? Wenn wir in die falsche Richtung laufen und plötzlich am Ufer des Großen Wassers stehen? Immer noch mit dem Fluss zwischen uns und der anderen Seite?“
„Die Chance ist fünfzig zu fünfzig. Lass uns losen, und dann kriechen wir einfach in eine Richtung los. Irgendwas müssen wir doch tun. Wir können doch nicht einfach hier verwürmeln.“
Weiter kam Hanis nicht. Ein Rauschen, das langsam lauter wurde, erfüllte mit einem Mal die Luft. Das Rauschen, das anfangs leise wie ein weit entfernter Bach klang, schwoll immer mehr an und schien von unten zu kommen. Direkt aus der Schlucht. Geradewegs von vorn. Sie lagen so flach sie konnten und starrten in die Weite vor sich. Urplötzlich starrten sie die gierig blitzenden, schwarzen Augen des mächtigen Herrschers der Lüfte an.
Kan-Tòr!
Seine riesenhaften Klauen weit nach vorn gereckt, die Schwingen wie zur Landung angewinkelt, schoss er auf sie zu. Aber Kan-Tòr landete nicht. Mit einem gezielten Schnappen beider krallen bewehrter Füße rauschte er dicht über dem Boden vorbei.
Alles ging so furchtbar schnell, dass Araic überhaupt nicht richtig begriff, was geschehen war. Bis er den markerschütternden Aufschrei seines Freundes hörte, der sich schnell entfernte und immer leiser wurde:
„Araiiic! Hiiiilf miiir! Araiiic!“
Starr vor Angst und vollkommen unfähig, auch nur ein Körperglied zu bewegen, starrte Araic dem entfliehenden Vogel mit seiner Beute nach. Er sah Hanis unterhalb des riesigen Körpers hilflos hin- und her schwingen. Die Schreie gingen ihm durch Mark und Bein, aber nur ganz langsam drang in sein Bewusstsein, dass das Unfassliche geschehen war: Kan-Tòr hatte seinen geliebten Freund geschnappt.
Der Flug des Luftschwebers beschrieb eine weit geschwungene Kurve, und schnell an Höhe gewinnend strebte er auf die entgegengesetzte Seite der Schlucht zu. Dort angekommen verschwand er kurz darauf.

Es war schrecklich! Es war unfassbar, unglaublich und unmöglich! Das, wovor alle Würmer immer die allergrößte Angst gehabt hatten, war wirklich und wahrhaftig geschehen. Sie hatten Kan-Tòr nicht gesehen! Er war nicht von oben gekommen. Er hatte sie vollkommen überrascht und überrumpelt.
Langsam wurde Araic die entsetzliche Wahrheit bewusst, und er starrte mit leerem Blick hinüber auf die gegenüberliegende Felswand. Dann entrang sich endlich ein Ton seiner Kehle.
„Ha…nis?“, flüsterte er fast unhörbar. „Hanis!?“
Und dann schrie er auf und rief immer wieder und immer lauter den Namen seines Freundes, bis er völlig heiser und vollkommen außer sich schluchzend im Gras zusammenbrach. Es war ihm unmöglich, den Tränenfluss zu stoppen und das Schluchzen zu unterbinden. Es durfte nicht sein! Es konnte nicht sein! Sein Schmerz war einfach ungeheuerlich. Was sollte er denn jetzt hier so völlig allein machen? Wo sollte er hingehen? Mit wem sollte er reden? Wer war da, wenn es dunkel wurde? Mit diesen Gedanken im Kopf glitt er schließlich in einen unruhigen Schlaf hinüber, der immer wieder von den Traumbildern des grauen Riesenschwebers und den Schreien seines treuen Freundes durchzuckt wurde.
Alle weiteren Kapitel bis zu Nr. 18 und allen 225 Seiten gibt es im eBook oder Buch