Alle waren sie da, und es herrschte wieder die feierliche, aber leicht angespannte Stimmung wie auf jedem Uti. Das Feuer in der Mitte und die Fackeln um den Versammlungsplatz herum tauchten die anwesenden Würmer in flackerndes Licht. Häuptling Winuwuk hatte sich auf seine angestammte Anhöhe gesetzt und war noch dabei, seinen unendlichen langen Körper zu sortieren, als Araic und Hanis sich von ihrer jeweiligen Stammesseite der Versammlung anschlossen. Es war ganz schön aufregend, denn das erste Mal konnten sie an den Beratungen direkt teilnehmen und mussten sich nicht auf Gerüchte und Gerede verlassen. Winuwuk räusperte sich geräuschvoll und eröffnete die Sitzung.
„Wie auf dem letzten Uti beschlossen, werden wir es uns so schnell wie möglich zur Aufgabe machen, mehr über die Schnecken der anderen Seite in Erfahrung zu bringen. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns jetzt mit der Frage beschäftigen, wie wir vorgehen wollen. Alle waren aufgefordert, uns heute ihre Vorschläge zu unterbreiten. Wenn es irgendwelche Ideen gibt, so mögen sie jetzt vorgebracht werden!“
Winuwuk richtete seinen Blick starr auf Naitsirc, denn er erwartete von diesem als erstem einen Vorschlag. Aber der wich seinem Blick aus und schien mit einem Mal irgendetwas auf dem Boden zu suchen. Er blickte in die Runde, konnte aber auch sonst niemanden in der großen Schar von Würmern erblicken, der auch nur irgendwelche Anstalten machte, das Wort zu ergreifen. Jeder schien auf den anderen zu warten, und so geschah überhaupt nichts. Überall betretene Gesichter. Soviel also zum Thema Mut und Würmer. Es schien keinen Vorschlag zu geben. Na gut. Dann werde ich jetzt ein für alle Mal dafür sorgen, dass dieser Quatsch für immer von der Bildfläche verschwindet, dachte Winuwuk grimmig. Idiotische Schnecken! Ich lass mir doch von denen nicht meinen Stamm vollständig kaputtmachen.
Der Häuptling räusperte sich erneut und erhob wieder seine Stimme. Er wusste genau, was er sagen wollte, und er würde es ihnen ins Gesicht schreien, damit endlich Vernunft einkehrte.
„Wie ich eurem Schweigen entnehme, ist niemand …“
„Doch!“
„Wie bitte?“ Winuwuk hatte das Wort zwar gehört, konnte aber weder glauben, dass jetzt doch noch jemand etwas sagen wollte, noch ließ sich ausmachen, wer es gesprochen hatte.
„Ich sagte: doch! Und ich meinte damit, dass ich doch sprechen möchte und doch einen Vorschlag habe!”
Araic hatte es tatsächlich getan. Er hatte das erste Mal auf einem Uti das Wort erhoben. Sein Schwanz zitterte, und seine Stimme klang sehr unsicher. Aber als diese ersten Sätze heraus waren, machte sich ein ungeheurer Stolz in ihm breit. Jetzt musste es so weitergehen. Hanis konnte es nicht fassen. Er stand auf der gegenüberliegenden Seite des Versammlungsplatzes bei den Knotenwürmern und war vollkommen erstarrt, als er die Stimme seines Freundes hörte. Jetzt wurde es ernst. Wie würden die Würmer auf den Vorschlag reagieren, den die zwei sich ausgedacht hatten. Ihm schlotterte das Schwanzende, als er daran dachte, dass er vielleicht auch gleich vor die große Runde der alten und erfahrenen Würmer treten musste.
Winuwuk blickte verzweifelt in die Runde. Da! Da ganz hinten zwischen den Zweischwanzwürmern! Es war aus der Ecke dort gekommen. Und die Stimme hatte sehr jung geklungen. Wer, beim Hirb noch mal war das?
„Wie heißt du?“
„Mein Name ist Araic, und ich habe einen Vorschlag zu machen.“
Araic? Winuwuk dachte kurz nach. Natürlich, dieser junge Bengel. Er war letzte Woche erwachsen geworden und durfte das erste Mal an einem Uti teilnehmen. Aber was erdreistete sich dieser Jungwurm, auf seinem ersten Uti den Mund aufzureißen. Normalerweise hatte man sich bei den ersten Utis still zu verhalten und hörte den Älteren respektvoll zu. Aber es war nun einmal so: Jeder hatte das Recht zu reden! Also auch dieser Frischling, der bestimmt noch eine grüne Schwanzspitze hatte. Widerwillig erteilte er ihm das Wort.
„Also, gut. Araic. So sprich denn und teile uns mit, was Du auf dem Herzen hast!”
Winuwuk glaubte nicht an einen ernstzunehmenden Vorschlag und bereitete schon im Kopf eine geeignete Erwiderung vor, die dem Jungen die Flausen aus dem Kopf vertreiben sollte.
Aber dann lauschte er Araics Worten. Was er sagte, war geradezu erstaunlich. Es war nicht nur ernstzunehmend, es klang sogar wirklich vernünftig. Zwei Würmer, die auf die Reise gehen sollten … Von jedem Stammesteil einer … Das klang logisch. Das klang sogar sehr logisch. Das war nicht nur logisch, das war die Lösung. Aber nein! Wer sollte von den Knotenwürmern so verrückt sein, mit einem Zweischwanzwurm so lange völlig allein zusammen zu sein. Das würde niemals gut gehen.
Genau das war die Frage, die Araic an das Ende seiner Rede gestellt hatte. Die Frage, ob es jemanden von den Knotenwürmern gäbe, der bereit wäre, ihn auf dieser gefährlichen Reise zu begleiten.
Stille. Wieder gab es nur betretenes Schweigen. Und wieder wurde klar, wie wenig mutig die Würmer doch waren und wie wenig sie über ihren eigenen Schatten kriechen konnten. Araic konnte die Stille kaum ertragen. Auf der einen Seite hoffte er inständig, dass nicht irgendjemand anders ihn begleiten wollte. Jemand, der älter, erfahrener und stärker war als Hanis und er. Auf der anderen Seite hoffte er genauso stark, dass Hanis jetzt keinen Rückzieher machte und sich aus Angst doch nicht meldete.
Die Stille hielt an. Winuwuk lächelte in sich hinein. Alles klar. Damit hat sich das Thema ja wohl endlich …
„Ich!“
Zaghaft zwar, aber doch für alle zu hören.
Oh, nein! Das konnte doch nicht sein. Wer war denn das schon wieder?
„Wer hat da eben ‚Ich‘ gerufen!“
„Ich, Hanis von den Knotenwürmern! Ich möchte Araic begleiten!“
Es waren die schwersten Worte, die er jemals gesprochen hatte, und sie klangen nicht besonders überzeugend. Aber trotzdem gab es für keinen der anwesenden Würmer einen Zweifel daran, dass er meinte, was er sagte. Hanis glaubte, ohnmächtig zu werden, so schwach fühlte er sich mit einem Mal. Aber es war gesagt. Er blickte zu Araic hinüber, der seinen Blick mit einem stolzen Augenzwinkern erwiderte.
Jetzt hörte sich aber alles auf! Schon wieder so ein junger Kerl! Und dann auch noch der, mit dem Araic als Kind immer gespielt hatte. Sie schienen sich immer noch zu verstehen, trotz der Trennung. Was soll ich denn jetzt machen, dachte Winuwuk, der trotz seines Alters und seiner Erfahrung nicht weiter wusste. Er konnte doch diese beiden Grünschwänze nicht auf die andere Seite von Chrisidokia ziehen lassen. Oder vielleicht doch?
„Beide mögen vortreten!“ Ich muss Zeit gewinnen, dachte der Häuptling, und sie mir erst einmal genau anschauen. Und so rafften die beiden Freunde ihre zitternden Körper auf und schlängelten sich langsam und unsicher in die Mitte des großen Kreises zu Winuwuk ans Feuer.
„Sind die Worte wirklich ernst gemeint oder handelt es sich dabei um einen Dumme-Jungwurm-Streich? Ihr wisst, dass das Sprechen auf einem Uti eine sehr ernste Sache ist! Hier werden keine Scherze gemacht!“
„Wir meinen es ernst!“, kam es gleichzeitig aus beiden Mündern.
Sie sahen gesund aus und kräftig, und in ihren Augen, da blitzte etwas, das so aussah, als ob sie wirklich tun wollten, was sie eben vorgeschlagen hatten.
„Also, gut. So soll es denn sein. Treffen wir die Entscheidung.“
Winuwuk räusperte sich wieder und richtete das Wort an alle. Vielleicht hielten die Würmer sie ja noch von diesem Wahnsinn ab.
„Wer ist dafür, dass wir Araic von den Zweischwanzwürmern hier auf der einen Seite und Hanis von den Knotenwürmern hier auf der anderen Seite auf die große Reise schicken und sie mit der Lösung des Geheimnisses der Schnecken beauftragen?“
Sofort schossen alle Schwänze in die Höhe, und als alle gemerkt hatten, dass es so war, erschollen plötzlich Hochrufe und lauter Beifall erklang. Der Bann war gebrochen. Es gab eine Entscheidung, und es gab jemanden, der für eine Lösung sorgen wollte. Alle riefen den bei- den lautstark Mut zu und ließen den Boden erbeben, indem sie mit den Schwanzenden darauf klopften.
Als der Tumult einigermaßen abgeebbt war, ergriff Winuwuk wieder das Wort und verkündete das Ende des Uti.
„Ich werde mit den beiden Botschaftern die Einzelheiten besprechen und bitte euch, ihnen in den nächsten Tagen alle Unterstützung und Hilfe zuteilwerden zu lassen, die sie für diese ungewöhnliche Reise brauchen! Damit ist das Uti beendet! Geht jetzt in Frieden nach Hause!“
Die nächsten drei Tage wurden zur Ausnahme gemacht. Es gab also keinen Ichtag, Dutag oder Ertag, sondern drei Sietage hintereinander, an denen die Vorbereitungen getroffen wurden, die für eine so lange Reise notwendig waren.
Amta, die weise Würmin, zeigte ihnen, was sie an Essbarem auf ihrer Reise finden würden und wie man es zubereitet. Schließlich konnten sie nur wenig Proviant für die ersten Tage mitnehmen. Außerdem zeigte sie ihnen allerlei Kräuter und Wurzeln und deren heilende Wirkung, falls ihnen einmal etwas zustoßen sollte. Von Mitteln gegen Erkältung bis hin zum Schlaftrunk war an Rezepten alles dabei. Auch gab sie ihnen einen Beutel mit, in dem sich getrocknete Kräuter befanden, falls einmal im Notfall nichts in der Nähe zu finden sei.
Barla brachte ihnen bei, wie sie sich auf ihrer Reise nach der Sonne und den Sternen richten konnten, damit sie nicht vom Weg abkämen, und schließlich erzählte Winuwuk ihnen noch, wie sie am besten mit fremden Lebewesen umzugehen hatten. Freundlich und höflich, aber bestimmt. Das war seine Meinung. Natürlich gab ihnen dieser oder jener von den anderen Würmern auch noch gute Ratschläge mit auf den Weg, denn schließlich wollte jeder etwas zu diesem aufregenden Abenteuer beitragen.
Araic und Hanis rauchte nach den drei Tagen ganz schön der Kopf von all den Dingen, die sie zu lernen hatten. Trotzdem waren sie sehr zuversichtlich, dass sie zumindest den größten Teil davon behalten würden. Pünktlich am letzten Abend vor der Abreise war alles erledigt, und sie verbrachten die letzte Nacht in den Höhlen der jeweiligen Familie. Vor Aufregung konnten sie kaum einschlafen, aber schließlich war die Müdigkeit doch stärker, und sie fielen in einen traumlosen Schlaf.