01 Die Vorgeschichte

Wie man so schön sagt: vor langer, langer Zeit, als die Sonne noch blau war … Sonnen werden blau geboren, und erst in der langen Zeit ihres Lebens ändert sich ihre Farbe. Wenn sie älter werden, leuchten sie grell weiß, so wie unsere Sonne, wenn es Mittag ist …

Jedenfalls lebte zu dieser Zeit in Wormland nur ein Stamm von Würmern. Die normalen Ringelwürmer. Sie waren friedliche Gesellen, die keiner Fliege etwas zu leide taten. Sie sahen etwas anders aus, als die Würmer bei uns auf der Erde, denn sie waren ein bisschen größer, hatten zwei kleine, aber starke Arme und waren wunderschön rotblau gefärbt. Sie hatten keine Beine, sonst wären sie ja keine Würmer gewesen, dafür zierte ein schönes ringeliges Schwanzende ihre schlanken Körper. Aus aufmerksamen, klugen Augen blickten sie fröhlich in die Welt, und sie sahen sehr freundlich aus. Sie lebten von dem, was das Land hervorbrachte, und führten ein angenehmes und geregeltes Leben ohne große Sorgen.
Ihre Woche hatte acht Tage und begann mit dem Ichtag. An diesem Tag beschäftigten sich alle Würmer mit sich selbst. Sie putzten ihre Nasen, nahmen ein gründliches Bad und machten alle möglichen Dinge, die man eben so für sich allein tut. Es wurde den ganzen Tag nicht geredet, weil ja schließlich jeder ausschließlich mit sich selbst zu tun hatte.
Der Dutag – zweiter Tag der Woche – war für den besten Freund und die beste Freundin bestimmt. Wenn man verheiratet war, für die Familie. Es wurden kleine Geschenke gemacht, dem einen wurde geholfen, dem anderen ein schönes Essen gekocht.
Die nächsten Tage waren der Sietag, der Ertag und der Estag. An diesen Tagen durften zuerst die Frauen, dann die Männer und am Estag die Kinder tun und lassen, was sie wollten, während die jeweils anderen ihre Pflichten erledigen mussten. Klar, dass der Estag der fröhlichste Tag in der ganzen Woche war, denn wenn alle Kinder auf einmal tun und lassen konnten, was sie wollten, kannst Du Dir ja vorstellen …
Der Wirtag – der sechste Tag der Woche – war das, was wir Menschen als Sonntag kennen. Alle hatten frei und brauchten nicht zu arbeiten. Man traf sich zu Spiel und Spaß und freute sich über die viele freie Zeit. Der Ihrtag war der Tag, an dem man sich um die anderen freundlichen Bewohner des Wormlands kümmerte. Die Bäume, die Blumen, die Seen und Flüsse, die Felder und den Wald. Besonders beliebt waren die Wollmaden und die Klettinge – putzige Kerlchen, mit denen es sich herrlich spielen ließ, weil sie so schön klein und über und über mit kleinen Härchen bedeckt waren, die immer so schön kitzelten, wenn sie einem Wurm über die Haut krabbelten. Die Klettinge konnten sich sogar untereinander verhaken und so ein kribbeliges, lebendiges Kissen bilden.
Eine besondere Art von freundlichen und gern gesehenen Gästen waren die Rummelangis. Diese waren ganz besondere Bewohner der Küste des Großen Wassers, einem großen Meer in der Nähe des Wormlands. Ab und zu kamen sie zu Besuch ins Wormland, indem sie durch die Wasserläufe vom Großen zum Kleinen Wasser schwammen. Das war wiederum ein See, der direkt an das Stammesgebiet der Würmer grenzte. Die Rummelangis sahen aus wie Steine, lagen am liebsten völlig bewegungslos am Strand und sagten den lieben langen Tag fast überhaupt nichts – außer, wenn sie gute Laune hatten. Dann gaben sie ein ganz leises “Mooooh!” von sich. Lachten sie, so hörte man ungefähr alle drei Stunden ein leises ‚Tss!‘ oder so ähnlich. Die Rummelangis waren deshalb so beliebt, weil sie so schön warm waren. Wenn die Würmer im Kleinen Wasser gebadet hatten, legten sie sich mit Vorliebe auf die Rummelangis, um sich wieder aufzuwärmen, vor allen Dingen, wenn die Sonne nicht schien.

Der unangenehmste Tag der Woche war der Sietag. Es war der Tag der Pflichten und Probleme. Am Abend trafen sich alle erwachsenen Würmer zum Uti am Lagerfeuer und beratschlagten sich. Uti ist würmisch und heißt übersetzt in die Menschensprache etwa „Ort- und-Zeit-zu-der-sich-etwas-ändert!“ und war die Versammlung, bei der alle wichtigen Vorkommnisse besprochen wurden. Den Vorsitz des Uti hatte immer der Häuptling des Stammes. Und der hieß seit Wurmgedenken immer schon Winuwuk. Angefangen von Winuwuk dem Ersten bis zum Zweihundertsechsundfünfzigsten, dem heutigen Herrscher, gab es eine ununterbrochene Linie von Häuptlingen mit dem gleichen Namen.

Das Uti war in der Hauptsache dazu da, sich mit der Verteidigung vor den Feinden der Würmer zu beschäftigen, und davon gab es in und um Wormland so einige. Angefangen von Kan-Tòr, dem riesigen grau-schwarzen Raubluftschweber, der über den Wäldern seine Kreise zog, bis hin zum Blasenfisch, einem an sich friedlichen Gesellen und Bewohner des Kleinen Wassers. Wenn dieser einmal nichts Gescheites zu Fressen fand, fing er sich auch schon mal einen Wurm, der sich beim Baden zu weit hinausgewagt hatte.
Auf dem Uti wurden allwöchentlich die Wachen festgelegt. Sie hatten bis zum nächsten Sietag dafür zu sorgen, dass der Stamm in Sicherheit leben konnte und mussten notfalls schnelle Alarmsignale aussenden. Dies war bitter nötig, wenn man weiß, dass die Würmer zwar blitzschnell in ihren Höhlen verschwinden, sich tot stellen oder einfach in die Erde wühlen konnten, aber keine Waffen hatten, um sich zu wehren. Und wenn sich Kan-Tòrs Schatten am Himmel zeigte, dann waren alle Würmer – bis auf die Wachen eben – wie vom Erdboden verschluckt. Der Wachjob war sehr unbeliebt unter den Würmern, denn er war anstrengend und sehr gefährlich (was wohl zu verstehen ist).

An einem dieser Utis – es war zur Herrschaftszeit von Winuwuk dem Einhundertvierten – gab es ein ganz besonderes Problem zu besprechen. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass es einmal so weitreichende Folgen haben würde. Eigentlich war es keine schwer- wiegende Sache, wenn nicht … Jedenfalls: Es ging um Parla, eine alte Würmin des Stammes, die zum vierunddreißigsten Mal Kinder bekommen hatte. Dies war an sich nichts Besonderes, denn Ringelwürmer konnten bis zu zweihundertmal Kinder bekommen. Normalerweise wurde immer nur ein Wurm zur Zeit geboren, aber Parla hatte nun schon zum sechzehnten Mal Zwillinge bekommen. Dies war an sich immer noch nichts Schlimmes. Zum Problem wurde es erst, wenn die kleinen Würmer in die Pubertät kamen, also erwachsen wurden. Mit den jeweiligen Zwillingsgeschwistern geschah etwas sehr Merkwürdiges. Eines der beiden Kinder entwickelte sich normal. Größe, Aussehen und alles andere stimmte und war so, wie es unter Würmern sein sollte. Sein Zwilling jedoch entwickelte mit einem Mal ein zweites Schwanzende. Wie die gespaltene Zunge einer Schlange vorne am Körper, so hatte dieser Wurm zwei Schwänze am Ende seines Körpers.
Man wollte nun Parla während dieses Uti das Kinderkriegen verbieten oder zumindest sollte sie nicht mehr zwei Kinder gleichzeitig bekommen. Du kannst Dir vorstellen, dass es um diesen Punkt zwar eine Menge Streit, aber keine Lösung geben konnte.
Also lief das Leben weiter seinen Lauf, ohne dass etwas unternommen wurde. Die Würmer mit den zwei Schwänzen wurden immer zahlreicher, denn dieser kleine Unterschied vererbte sich weiter. Und dazu benahmen sich die Zweischwanzwürmer sonderbar. Sie zogen sich zurück, wollten unter sich sein und waren nicht besonders gesellig. So bildete sich mit der Zeit ein kleiner Stamm im Stamm. Die normalen Einschwanzwürmer hatten immer mehr das Gefühl, dass sie nur etwas Gewöhnliches waren, die Zweischwanzwürmer hingegen etwas Besonderes. Sie suchten nun auch nach Möglichkeiten, etwas Außergewöhnliches zu haben, und hatten es auch bald gefunden: Erst wurde es langsam Mode, anschließend Gewohnheit und schließlich ein Muss: Jeder Einschwanzwurm verzierte sein Schwanzende mit einem Knoten. So gab es bald keine erwachsenen normalen Ringelwürmer mehr, sondern nur die Zweischwanz- und die Knotenwürmer. Der Stamm war gespalten.
Die ersten Jahre ging alles noch gut. Es gab zwar kleine Streitereien und Gezänk zwischen den Gruppen, aber ansonsten war das Stammesleben weiterhin friedlich. Doch nach und nach wurden die beiden Arten von Würmern immer feindseliger gegenüber den jeweils anderen. Als nun Winuwuk, der Zweihundertsechsundfünfzigste, herrschte, kam es zu einer Entscheidung, die uns in dieser Geschichte noch viel beschäftigen wird.

Aber bevor ich weitererzähle, schaue ich noch einmal in der entsprechenden Uti-Rolle nach, was bei dieser denkwürdigen Zusammenkunft, die einmal als das “Uti des Großen Aufbruchs” in die Geschichte Wormlands eingehen sollte, geschah.