03 Die Freude

Innerlich aufgewühlt durch die Versammlung, aber auch sehr müde gingen alle nach Hause. Am nächsten Morgen beim Frühstück besprach man natürlich in allen Familien das gleiche Thema. Die Kinder hörten neugierig zu, aber konnten diesen ganzen Streit nicht mehr hören.

Am nächsten Tag, dem Dutag, an dem sich immer die besten Freunde trafen, sahen sich auch Araic und Hanis, zwei Wurmjungen, die bald erwachsen werden sollten. Das Besondere an dieser Freundschaft war, dass Hanis aus einer Knotenwurm- und Araic aus einer Zweischwanzwurmfamilie stammte. Die Eltern der beiden sahen diese Freundschaft nicht gern, und trotzdem fanden Hanis und Araic immer wieder Wege, sich zu treffen, sodass die Eltern schließlich aufgaben, sie trennen zu wollen. Außerdem stand bei Hanis und Araic ja auch noch gar nicht fest, welcher Stammesgruppe sie angehören würden. Das kam daher, dass alle Würmer in ihrer Kindheit völlig gleich aussahen. Sie hatten weder einen Knoten im Schwanz, noch hatten sie zwei Schwanzenden. Erst an dem Tag, an dem sie erwachsen werden, würde diese Frage entschieden.

Dieser Tag war, seitdem es zwei Arten von Würmern gab, ein ganz besonderes Datum im Leben eines Wurmes. Es war der Tag, an dem sie die unbeschwerte Welt der Kinder verlassen mussten, und der Tag der Entscheidung, welcher Gruppe sie angehören würden. Bei Menschen kann man nie so genau wissen, wann ein Kind beginnt erwachsen zu werden, bei den Würmern hingegen geschieht dies immer am selben Tag im Leben und immer innerhalb weniger Augenblicke: Es vollzog sich immer im fünfzehnten Lebensjahr, im sechzehnten Monat, am siebzehnten Tag und zwischen der achtzehnten und neun- zehnten Stunde des Tages. In dieser einen Stunde entschied sich das Schicksal eines jeden Wurmes und welchen Weg er für den Rest seines Lebens einschlagen würde. Bei Araic und Hanis würde es auch nicht mehr lange dauern. Beide waren am gleichen Tag geboren und hatten das fünfzehnte Wurmjahr schon lange erreicht. Sie waren jetzt also genau fünfzehn Jahre, sechzehn Monate und vierzehn Tage alt – bis zur Entscheidung waren es nur noch drei Tage.
Für die Zwei gab es bei ihrem Treffen deshalb natürlich nur ein Thema: Dieser eine Tag, wenn es so weit sein würde: endlich erwachsen und kein Grünschwanz mehr! Hanis war gerade dabei, Araic zu erzählen, was er letzte Nacht geträumt hatte, als dieser ihn unterbrach:
“Weißt du”, sagte er, “es wäre unheimlich schön, wenn wir beide der gleichen Seite angehören würden. Etwas anderes kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Dann würden die anderen endlich mit ihrem Gerede über uns aufhören. Aber stell dir doch bloß mal vor, du wärest ein Zweischwanz- und ich ein Knotenwurm. Was wäre dann?”
“Das weiß ich auch nicht”, entgegnete Araic ratlos. “Dann müssen wir uns wohl ein Leben lang aus dem Wege gehen.”
“Na ja”, meinte Hanis, “wir sollten wohl erst mal in Ruhe abwarten. Lange ist es ja nicht mehr hin, bis wir es endlich wissen … Je nachdem, wie es ausgegangen ist, können wir uns ja immer noch die Köpfe zerbrechen.”
Aber innerlich spürten sie genau, dass sie auf keinen Fall ihre Freundschaft aufgeben würden. Dies war und blieb unvorstellbar für sie. Andererseits war es aber genauso unvorstellbar, dass zwei erwachsene Würmer der jeweils anderen Stammesgruppe auch nur das geringste miteinander zu tun hatten.
So trennten sich die beiden Freunde an diesem Abend wieder einmal mit einem wurmeligen Gefühl im Bauch, das eine Mischung aus steigender Spannung und Ratlosigkeit war, und schlängelten sich nach Hause. Keiner von beiden schlief in dieser Nacht besonders gut.

Der Morgen des Estag war so, wie es sich für einen fröhlichen Tag gehört: Schon früh war das Vogelgezwitscher zu hören, in der Nacht war nichts von Kan-Tòr zu sehen gewesen, und die Sonne erschien am Horizont, als hätte sie besonders gut geschlafen. Ihre wärmenden Strahlen lockten schon die ersten Kinder aus ihren Erdhöhlen, um herumzutollen, zum Kleinen Wasser zu schlängeln und sich mit den Fadenmaden und Klettingen zu amüsieren. Alle waren bester Laune, wie es schien. Doch leider nicht alle. Bei unseren beiden Freunden Hanis und Araic wollte sich einfach keine Estags-Laune einstellen. Dabei war es doch ihr Tag! Es waren noch genau sieben Stunden bis zur achtzehnten Stunde des Tages, aber im Gegensatz zu den anderen Kindern, die diesen Tag als ihren absoluten Freudentag genossen, waren sie missmutig und verschlossen. Das traditionelle letzte Kinderfrühstück, das an diesem Tage mit der gesamten Familie eingenommen wird, war ihnen fast im Halse steckengeblieben. Nicht einmal die leckeren Humusbeerchen mit Lausbrei erzeugten ein wenig Freude.
Zum Glück war es an diesem Tag des Hinüberwechselns in die Erwachsenenwelt üblich, dass sich die Heranwachsenden zurückzogen und völlig allein auf den großen Moment warteten, der ja schließlich eine sehr private und persönliche Sache war, die nur einen selbst etwas anging. Man dachte über die Zukunft und die Vergangenheit nach, zog eine Bilanz der sorglosen Kindertage und versuchte, mit sich auszumachen, was man als Erwachsener erreichen wollte und wo sein Platz war.

Araic und Hanis jedoch hatten sich schon früh unter ihrem Schirmpilz im Wald getroffen. Keiner von beiden sprach ein Wort, still starrten sie vor sich hin und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Am Lauf der Sonne erkannten sie, wie viel Zeit ihnen noch bis zur Entscheidung blieb. Immer, wenn eine weitere Stunde verstrichen war, ließen beide einen lauten Seufzer vernehmen. Als die Sonne langsam hinter dem Horizont versank und es immer näher auf die entscheidende Stunde zuging, rückten sie immer dichter aneinander, bis sie schließlich ganz eng miteinander verschlungen waren. Vor allen Dingen versuchten beide instinktiv, ihre Schwanzspitzen unter ihrem Körper zu verstecken.

Und dann hörten sie aus dem Dorf das Signal. Der langgezogene tiefe Ton des Tububaumhorns durchschnitt die Stille und verkündete die achtzehnte Stunde des Tages. Beide blickten ängstlich und mit großen Augen auf ihre Körperenden.
„Gleich passiert was, gleich passiert was“ meinte Araic „Ich spüre in meiner Schwanzspitze ein ganz unangenehmes Kribbeln!“
Hanis sah Araic verständnislos an und meinte: „Ich merke überhaupt nichts!“.
Und dann geschah es. Araics Schwanzspitze fing erst ganz leicht an zu zittern, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Das Zittern wurde immer heftiger, die Schwanzspitze richtete sich auf, und nach einiger Zeit ertönte ein Geräusch wie bei einer Klapperschlange. Beide starrten wie gebannt auf das hin- und her zuckende Ende. Plötzlich stieß Araic einen erstickten Schrei aus, und Hanis fuhr vor Schreck in die Höhe. Mit einem Mal begann die Haut an Araics Schwanzspitze aufzureißen und sich von Körper zu schälen. Ganz langsam bildete sich ein Riss, der sich immer weiter nach oben hin fortsetzte. Darunter gab es heftige Bewegungen, so als ob ein Küken aus seinem Ei schlüpfen wollte. Und tatsächlich sprang plötzlich eine neue, frische Schwanzspitze unter der alten Hülle hervor. Doch das war noch nicht alles: Eine weitere folgte wenige Augenblicke später, und die jetzt nutzlos gewordene alte Haut fiel zu Boden. Der Schwanz war gespalten, und es hätte eindeutiger nicht sein können: Aus Araic war ein erwachsener Zweischwanzwurm geworden.

Bei Hanis hingegen rührte sich überhaupt nichts. Kein Kribbeln, kein Zittern, kein Häuten und kein Gerassel. Sein Körperende lag völlig unbeeindruckt auf der Erde und schlängelte sich nur ab und zu wie üblich ein wenig hin und her. Nichts geschah und die entscheidende Zeit wurde immer knapper. Hanis Augen füllten sich mit Tränen, und als die Zeit abgelaufen war, konnte er sich nicht mehr zurückhalten und fing bitterlich an zu schluchzen. Nun war geschehen, wovon beide ahnten, dass sie nicht wussten, wie sie damit in Zukunft umgehen sollten. Araic sollte eigentlich stolz auf seine wunderschöne Zweischwanzspitze sein, und beide sollten freudestrahlend ins Dorf zurück schlängeln, um sich darauf vorzubereiten, einen Platz für eine eigene Erdhöhle zu suchen, aber sie blieben wie gelähmt liegen. Schließlich flüsterte Hanis:
„Ich will kein Knotenwurm sein, wenn du keiner bist. Ich will dir nicht aus dem Weg gehen müssen. Ich will weiter Dein Freund sein. Ich will, ich will, ich will, hörst du?”
Araic murmelte nur: „Was sollen wir jetzt bloß tun, was sollen wir jetzt bloß tun?“, ohne darauf eine Antwort zu erhalten.
Er erholte sich langsam von der Verwandlung und wurde sich nach und nach der Tatsache bewusst, dass er jetzt erwachsen und ein Zweischwanzwurm war. Dann machte er ein ernstes Gesicht, eben so eines, wie es die Erwachsenen machten, wenn sie etwas sehr Wichtiges zu sagen hatten.
„Du weißt“, sagte er, „dass wir beide jetzt zu unseren Familien zurückkehren müssen und die Vorbereitungen zu treffen haben, die notwendig sind, um bald eine eigene Erdhöhle zu haben. Sie haben schließlich auch ein Recht darauf, zu erfahren, ob die Familie weiter- hin zusammengehört oder ob sie nun einen Sohn verloren hat. Wenigstens werden sie sich freuen, dass in dieser Hinsicht alles beim alten bleibt. Ich mache dir einen Vorschlag: Wir gehen jetzt erst einmal nach Hause und treffen uns heute Nacht noch einmal hier. Dann beratschlagen wir, wie es mit uns weitergehen kann.”
Traurig nickte Hanis zustimmend. Aber bevor sie ihren Pilz verließen, half Araic Hanis noch feierlich, einen Knoten in seinen Schwanz zu machen. Es wurde ein wunderschöner Knoten, der genau da saß, wo er sitzen sollte. Schließlich musste ja auch Hanis als richtiger Erwachsener zu seiner Familie zurückkehren. Obwohl die Situation so wenig fröhlich war, konnte sich Hanis dann doch nicht dagegen wehren, dass er ein kleines bisschen stolz auf sein neues Schmuckstück war.

Zu Hause angekommen, war die Freude groß. Beide mussten ausführlich erzählen, wie alles passiert war. Sie mussten sich ganz schön zusammenreißen, um an der allgemeinen Freude Anteil zu nehmen und zumindest so zu tun, als ob sie sich genau wie ihre Verwandten darüber freuten, dass zumindest in der Familie alles so blieb, wie es bisher war. Sie wurden eindringlich auf ihre kommenden Pflichten hingewiesen. Dies war natürlich in erster Linie der Bau einer eigenen Höhle. Aber genau so hörten sie wieder die Ermahnungen, dass es eine Freundschaft zwischen Knoten- und Zweischwanzwürmern nicht geben könne und dass man nun Abstand voneinander halten müsse. Als Kind wäre so ein Verhalten wohl noch gerade eben zu tolerieren gewesen, aber als Erwachsener sei so etwas nun wirklich absolut unmöglich!

Endlich legten sich alle schlafen, nach diesem aufregenden Tag. Araic und Hanis konnten es kaum erwarten, bis sie das gleichmäßige Schnarchen ihrer Verwandten hören konnten, schlichen sich leise aus der Höhle und machten sich auf den Weg zu ihrem Pilz, der düster im Mondschein lag. An ihrer Stimmung und Ratlosigkeit hatte sich aber immer noch nichts geändert, und so saßen sie schweigend da und schauten sich den Mond an.

Mit einem Mal sprang Araic auf, vollführte einen wahren Freudentanz unter dem ausladenden Schirm des Pilzes und konnte sich fast nicht wieder einkriegen:
„Jetzt habe ich die Idee! Das ist es! Hurra, das ist die Lösung! Warum bin ich nur nicht schon früher darauf gekommen?”, rief er immer wieder und ignorierte dabei die hilflosen Rufe seines Freundes, der nun unbedingt wissen wollte, was denn los sei und was mit einem Mal so Tolles passiert war. Nach dem sich Araic wieder annähernd beruhigt hatte, begann er zu erklären:
„Da wir ja nun erwachsen sind, können wir am nächsten Ihrtag das erste Mal am Uti teilnehmen und haben sogar Rede- und Stimmrecht. Beim letzten Uti hat es doch diese Abstimmung gegeben. Na, du weißt schon! Über das Problem mit den Schleimschnecken und dieser ganze Streit. Ich habe mir nun also überlegt, dass man die Wahrheit nur erfahren kann, wenn man sich die Sache direkt im Schneckenland genau ansieht. Das kann man aber nicht allein. Das wäre viel zu gefährlich!”.
„Stimmt!“, pflichtete Hanis immer noch total verwirrt bei.
„Also müssen mindestens zwei von uns auf die Reise gehen“, fuhr Araic fort. „Da gibt es aber schon das nächste Problem: Es wäre bei der jetzigen Lage geradezu unmöglich, wenn zwei Würmer vom gleichen Stamm losziehen würden. Sie könnten nach ihrer Rückkehr ja sonst was erzählen, und von der anderen Stammesgruppe würde sowieso niemand auch nur ein Wort glauben. Der Streit würde also von vorne losgehen, und es hätte alles nichts gebracht.”
„Richtig! Aber was schlägst du vor?”, fragte Hanis dazwischen, ohne besonders viel schlauer geworden zu sein.
„Es müsste also je ein Wurm aus jeder Gruppe gehen. Aber welcher Knotenwurm würde es schon für eine so lange Zeit und auf so einer gefährlichen Reise mit einem Zweischwanzwurm aushalten? Na? Niemand! Außer …”.
„Außer?“, wiederholte Hanis, der immer noch kein Wort verstand.
„Außer uns beiden!“, schrie Araic voller Begeisterung in die Nacht. „Wir werden vorschlagen, dass wir beide gehen! Damit hätten wir gleich mehrere Fadenmaden vom Baum geschüttelt! Erstens könnten wir zusammen sein, zweitens könnten wir etwas für den ganzen Stamm tun, indem wir endlich herausfinden, was sich wirklich auf der anderen Seite von Chrisidokia befindet, und drittens könnten wir ein richtiges echtes, spannendes, gefährliches und einmaliges Abenteuer erleben!”
„Ja natürlich! Aber klar!”, fing nun auch Hanis an zu rufen, bei dem es jetzt eindeutig gewurmelt hatte. „Und wir könnten vielleicht sogar dafür sorgen, dass die Stammesfeindlichkeiten ein für alle Mal aus der Welt geschafft werden.“

Vor Freude über diese Idee umarmten sie sich und ringelten und schlängelten um den Fuß des Schirmpilzes herum, bis ihnen ganz schwindelig wurde.

Araic & Hanis