00 Prolog

Langsam ging der zehnte Tag des Monats Bram zu Ende. Die Sonne verlor Ihre wärmende Kraft und hing wie eine reife Blutorange am Horizont über Wormlands Westen.

Die Luftschweber – so nannten sie die Würmer, die ähnliche Wesen sind, wie bei uns die Vögel – begaben sich zurück in Ihre Nester, um die Jungen zu füttern. Die Weisen Stillsteher – also das sind nun das, was bei uns die Bäume sind – hörten auf zu rascheln, rollten Ihre Blätter ein und machten sich wie alle anderen Lebewesen für die kommende Nacht bereit. Die Monde putzte sich heraus, um in wenigen Minuten ihre Reise über den Himmel anzutreten und es senkte sich Stille über Land und Wasser.

Ja … Monde. Chrisidokia hat zwei davon. Einen gelblichen, großen und einen kleineren, bräunlichen, die immer hinter einander her über den Himmel ziehen und sich gegenseitig umkreisen. Eigentlich hat der Planet sogar drei Monde, aber der kleinste – Scib – „Der-glücklich-aber-einsame“ – genannte Mond zieht fast immer im Schatten der anderen seine Bahn, sodass man ihn fast nie zu sehen bekommt. Und wenn: Ja, wenn ist es ein großes Fest. Das Scib-Fest eben.
Wormland bedeckt die nordwestliche Fläche der Welt des Planeten Chrisidokia. Chrisidokia ist soooo weit weg von der Erde, dass Du ihn am Himmel zwischen all den anderen Sternen gar nicht sehen kannst… es sei denn, Du fährst nach Afrika bis auf den Berg Kilimandscharo. Auf seinem Gipfel siehst Du bei Neumond in einer klaren Nacht ganz, ganz weit im Süden einen Stern funkeln. Er schimmert grünlich-blau und glitzert ein wenig. Das ist Chrisidokia. Vielleicht fahren Deine Eltern ja einmal mit Dir nach Afrika, wenn Du Ihnen von Chrisidokia erzählst. Und wenn sie das nicht tun, dann fährst Du eben allein dorthin, wenn Du einmal groß bist. Auf alle Fälle weißt Du jetzt, wo Chrisidokia liegt.

Chrisidokia und seine Monde

Du denkst bestimmt, dass dort genauso Menschen leben wie bei uns auf der Erde. Weit gefehlt! Kein einziges menschliches Wesen hat jemals diesen Planeten betreten.

Auf Chrisidokia lebte ein Stamm von Würmern in einer Gegend, die Wormland genannt wurde. Doch anstatt in Freundschaft und Eintracht oder wenigstens als gute Nachbarn miteinander zu leben, hatten die Würmer irgendwann einmal vor langer Zeit beschlossen, sich in zwei Stammesteile aufzuspalten und sich gegenseitig nicht zu mögen. Sie gingen sich aus dem Weg, wo sie nur konnten, verzogen sich in den jeweils ihrigen Teil des Stammesgebietes und wenn sie einander einmal unglücklicherweise begegneten, gab es alles andere als ein freundliches „Guten Tag, Herr Nachbar, wie geht es Ihnen heute?“. Es war eine sehr schlimme Situation, die nur daher rührte, dass sich die Würmer in einer winzigen Kleinigkeit voneinander unterschieden. Es war kein so gravierender Unterschied, wie bei uns Menschen, wo einige eine völlig andere Hautfarbe haben. Nein, es ging nur um das letzte kleine Ende Ihres ringeligen Körpers: Es ging um das Schwanzende.
Niemand in Wormland vermochte etwas an dieser Situation zu ändern. Und wie es eigentlich dazu gekommen war, wussten nur noch die Stammesältesten zu sagen. Sie waren in der Lage, die Uti-Rollen zu lesen. Auf diesen Rollen aus geflochtenem und getrocknetem Seetang stand die gesamte Geschichte des Wormlandes geschrieben. Hier stand zu lesen, dass es einmal eine andere Zeit gegeben hatte, eine Zeit, in der die Würmer in Frieden und Eintracht lebten und wo es noch keine Unterschiede zwischen ihnen gegeben hatte. Aber heutzutage war es nun mal anders und dass es so war, wurde regelmäßig am Ihrtag deutlich, dem letzten Tag der achttägigen Woche in Wormland, an dem sich – als letzte Gemeinsamkeit zwischen den Stammesgruppen – alle Erwachsenen Würmer zum Uti trafen. Aber ich sehe schon…

Bevor Du nicht ein wenig mehr über die Vorgeschichte und Anfänge der Zeit in Wormland weißt, sind all diese Dinge schwer verständlich und sicherlich ein wenig verwirrend. Fangen wir also besser ganz von vorne an.
Oder besser erst morgen, denn es gibt viele wundersame neue Dinge, die auf dich zukommen werden und Du musst sehr gut aufpassen, um sie zu verstehen und zu behalten. Ich werde am besten in der Zwischenzeit noch ein wenig in den Uti-Rollen nachlesen, damit ich auch nichts Falsches erzähle.