02 Der Streit

Die Sonne war gerade untergegangen und die älteren Würmer trafen sich wie bei jedem Sietag unter dem großen Fliegenpilz. Es dauerte gar nicht lange, da waren Sie auch schon bei Ihrem Lieblingsthema: Was gibt es auf der anderen Seite der Welt? Diese Frage faszinierte die Würmer schon seit Urzeiten. Dadurch, dass sie sich in die Erde bohren konnten und eine sehr gute Beobachtungsgabe besaßen, kamen sie zu der Ansicht, dass es eine andere Seite der Welt geben musste. Vielleicht müsse man sich nur lang genug in die Erde wühlen oder aber bis an den Rand der Welt und dann auf der anderen Seite entlang laufen. Auf diese Weise könnte man herausfinden, was dort sei.

Eine ganz besondere Legende war die Annahme, dass es auf der anderen Seite von Chrisidokia eine fremdartige Schneckenart geben müsse. Und diese Schneckenart verfügte über eine ganz besondere Art von Schneckenschleim, so nahm man an. Die Knotenwürmer waren felsenfest davon überzeugt, dass Scheinstein aus diesem besonderen Schleim wurde: Dieses wundersame Material, das so unendlich glatt, so hart wie Stein, aber so klar wie Wasser war, sodass man hindurchschauen konnte. Man könnte es herrlich für die Lichtöffnungen der Höhlen benutzen, wenn man nur darüber verfügte, um das Tageslicht hereinzulassen und es trotzdem warm und sicher zu haben. Die Schnecken erzeugten es zwar, ließen es aber nur achtlos liegen, weil Ihnen gar nicht bewusst war, was sie da hatten. Das einzige, wozu sie es benutzten war als glatte Unterlage, um nur ab und zu zum Spaß darauf herum zu gleiten.Die Zweischwanzwürmer hingegen waren der Überzeugung, dass die Wege der Schnecken aus Eis waren, welches sie am Ostpol von den Eislöwen einkauften. Bezahlt wurde das Eis – wie sollte es anders sein, mit den Edelsteinen, die sich aus den von der Sonne getrockneten Schleimspuren der Schnecken bildeten. Und diese waren wunderschön und sehr wertvoll.

Winuwuk, der 256ste Häuptling der Würmer

Winuwuk versuchte, den allgemeinen Tumult etwas zur Ruhe zu bringen, indem er mit seiner dunklen, rauen Stimme rief:
„Beim Hirb nochmal, ist es nicht völlig egal, was dort drüben passiert? Wir werden die Wahrheit sowieso nie herausbekommen, weil wir nicht so weit graben und schon gar nicht so weit kriechen können. Wir könnten höchstens Kan-Tòr fragen. Aber das sollten wir ja wohl besser bleiben lassen, oder hat irgendjemand von euch Lust, gefressen zu werden?“
Der Häuptling war eine mächtige Erscheinung, die vor allem dadurch auffiel, dass sich sein Körperende in einer Unmenge von Schleifen, Verknotungen und Ringelungen verlor, die zu zählen niemand in der Lage gewesen wäre. Er saß auf diesem Knäuel wie auf einem Thron und ließ nur sein weises von einem langen wallenden Bart umgebenen Haupt herausschauen. Seine grauen Augen hatten den klaren Glanz des Wissens und der Weisheit, wenn sie auch in letzter Zeit von der Sorge um seinen Stamm getrübt worden waren und müde aussahen.
Naitsirc, der unbeherrschte Anführer der Zweischwanzwürmer blickte Winuwuk mit unverhohlener Missgunst an, strich sich durch seinen schwarzen, langen Bart und ließ mit schneidender Stimme vernehmen: „Hört, hört! Es ist unserem ehrenwerten Häuptling also egal, was in uns vorgeht! Es ist ihm egal, was in der Welt um uns herum passiert und es ist ihm egal, ob wir so armselig und rückständig wie bisher hier weiterleben oder ob wir an dem Reichtum der Schnecken teilhaben können. Das ist simpel und einfach wieder einmal typisch. Sobald es darum geht, etwas Neues auf der Restwelt zu entdecken, zieht das Knotenvolk seinen Schwanz ein!“
Diese Äußerung machte Winuwuk natürlich über die Maßen wütend, aber dennoch hielt er seine Stimme würdevoll im Zaum und entgegnete äußerlich völlig ruhig: „Nun gut! Es scheint, als gäbe es zwei unüberbrückbare Meinungen zu diesem Thema und auch darüber, wie wir damit umzugehen haben. Da sich hieran nichts zu ändern scheint und wir immer häufiger darüber in Streit geraten, schlage ich vor, dass wir versuchen, das Geheimnis zu lüften.“

Irgendwann musste doch endlich einmal Schluss mit diesem Gerede sein. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, wie sie es bewerkstelligen sollten, aber sein Vorschlag schien ihm logisch. Er würde zumindest dafür sorgen, dass für eine Weile Ruhe einkehrte.
„Die Frage ist nur, wie wir das erreichen sollen. Hat irgendjemand Vorschläge hierzu?“
Lautes Gemurmel setzte ein und die Würmer steckten die Köpfe zusammen. So lange hatten sie sich mit den Legenden abgegeben und immer wieder erzählt, wie es denn sei, aber jetzt griff eine große Ratlosigkeit um sich. Was sollte man tun, um dem Geheimnis auf die Schleimspur zu kommen? Schließlich meldete sich Naitsirc zu Wort: „Wir stimmen Dir ausnahmsweise zu, Winuwuk. Es muss etwas geschehen. Aber es erscheint uns verfrüht, jetzt eine schnelle Entscheidung zu treffen. Wir brauchen Bedenkzeit. Ich schlage vor, wir überlegen uns Vorschläge bis zum nächsten Uti.“
Das konnte doch nicht wahr sein, dachte Winuwuk. Was war denn mit dem sonst so aufbrausenden Naitsirc los? Sonst war immer er es, der sofort schnell bei der Sache war und alles in die Hand nehmen wollte. Jetzt wollte er nachdenken. Das konnte nur heißen, dass er auch gemerkt hatte, dass es einen großen Unterschied zwischen Worten und Taten gab. Mit anderen Worten: Auch dieser neunmalkluge Zweischwanzwurm traute sich nicht, einfach loszugraben oder loszugehen, um die Schnecken zu finden. Wie gut. Vielleicht würde sich niemand bereit finden. So würde sich die Sache von selbst erledigen und der Streit hörte ganz von allein auf.
„Also gut, ich nehme Deinen Vorschlag entgegen und denke, wir sollten darüber abstimmen, ob und wie wir weiter verfahren.“

Abstimmungen waren immer so eine Sache. Offiziell wurden mit erhobenem Schwanzende Stimmen abgegeben und der Häuptling hatte alle Stimmen zu zählen, um eine richtige Wahl durchzuführen. Aber es hatte sich eingewürmelt, dass man darauf verzichtete, weil es sehr schwer war, alle nach oben ragenden Schwänze zu zählen. Vor allen Dingen, wenn die Zweischwanzwürmer anfingen zu mogeln und ihre Enden so weit auseinander hielten, dass man meinen könnte, es handelte sich um zwei Schwanzenden. Außerdem waren die Abstimmungen sowieso immer einigermaßen klar. Es gab ungefähr gleich viele Zweischwanz- und Knotenwürmer, also gab es entweder ein Unentschieden, weil die Stammesteile verschiedener Meinung waren oder es wurde klar für oder gegen eine Sache gestimmt, weil der gesamte Stamm der gleichen Ansicht war.

Winuwuk rief also zur ersten Abstimmung auf. Vielleicht löste sich das ganze Problem hier schon in Luft auf.
„Wer dafür ist, dass wir mehr über die Schnecken in Erfahrung bringen sollten, der hebe jetzt den Schwanz!“ forderte Winuwuk mit lauter Stimme seine Untertanen auf.
Alle Schwänze auf beiden Seiten reckten sich in die Höhe. Na ja, dann sollten wohl Taten folgen. Winuwuk glaubte zwar nicht daran, dass irgendein praktikabler Vorschlag zu erwarten war oder dass irgendetwas bei welchem Vorhaben auch immer herauskam, aber er hatte keine andere Wahl.
„Wer ist dafür, dass bis zum nächsten Uti Vorschläge für eine Expedition zur Lösung des Geheimnisses der Schnecken erarbeitet werden, die dann zur Abstimmung kommen?“
Das gleiche Bild. Sie wollten es also tatsächlich. Alle. Vielleicht war das die große Chance für seinen Stamm. Wenn gelang, hinter das Schneckengeheimnis zu kommen, konnte vielleicht wieder Frieden einkehren. Aber wie sollte man das anstellen?

Winuwuk wusste keine Antwort darauf.